Sonntag, 21. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 11. und letzter Tag

Die Drillinge (so haben uns unsere Jury-Kollegen genannt) nach 11 Tagen im Kino und mindestens 32 Filmen: erschöpft und bildgesättigt.

Meine Jurykollegin sitzt schon morgens im Kino, ich schlafe aus und gehe erst am Nachmittag in die letzten Filme.
17.00 Uhr CinemaxX 7
Diese Veranstaltung am heutigen Berlinale Kinotag ist knackend voll. Das Kartenkontingent für Berlinalemitarbeiter und Akkreditierte ist heute sehr klein, denn dieser Tag ist für das Publikum. Heute kosten die Kaufkarten regulär 6,- € weshalb auch alle Kinos gut besucht sind.
Knapp 40 Minuten dauert die Preisverleihung der Publikumspreise der Sektion Panorama. Jeder Panoramafilm wurde vom Zuschauer über Stimmkarten bewertet. Von den 22.000 abgegeben Stimmen wurden 5 Gewinner gezogen, die Sachpreise gewonnen haben. Anschließend bekamen die 3 meistgewählten Filme (alles Dokumentationen!) jeweils einen Preis. Der erste Preis ging, nach 2007 wieder an die Regisseurin Lucy Walker. Gerade ihre Dankesrede war sehr rührend.
Ihr Film WASTE LAND zeigt unbewertet das Zusammentreffen armer Deponiearbieter in Rio de Janeiro mit einem brasilianischen Fotografen, der aus Abfallprodukten Bilder macht, dessen Fotografien er verkauft. Aus dem dokumentierten Projekt sind großformatige Fotos entstanden. Diese zeigen verschiedene Arbeiter im Portrait, zusammengesetzt aus Abfall. Die Fotos wurden in verschiedenen Museen ausgestellt und bei Auktionen verkauft.
Diese Armut ist erschreckend, im Gegensatz dazu haben die Bilder der Deponie eine unglaubliche ästhetische Kraft. Besonders der Stolz und die Träume der portraitierten Arbeiter lassen beim Zuschauer kein falsches Mitleid aufkommen. Die Kamera ist nah am geschehen und beobachtet nur, man fühlt mit, aber man fühlt sich nicht unangenehm verantwortlich.
Diese Dokumentation ist sehr professionell gemacht. Musik, Typografie und Erzählfluss bilden einen schlüssigen Rahmen, werden aber nicht vordergründig eingesetzt. Ich mochte diesen Film. Eine moralische Bewertung der Intention des Fotografen bleibt dem Zuschauer überlassen - das findet man als Zuschauer einer Doku selten.
Nach einem letzten Cappuccino im Touristeneiscafé der Potsdamer Platz Arkaden gehen wir in unseren letzten Berlinalefilm in diesem Jahr. Es gibt nur eine Festivalkopie des Forumfilms, den wir jetzt sehen werden. Weil der Film parallel im Kino Babylon in Mitte läuft, wurde die Vorstellung im CinemaxX 6 nach hinten verschoben. Akt für Akt werden die Filmrollen zu uns ins CinemaxX gefahren - auch das gehört zur Berlinale: Improvisation.

20.30 Uhr CinemaxX 6
Bis auf den letzten Platz ist der Saal gefüllt. Viele der Zuschauer haben sich Karten gekauft. Wir sitzen im vorderen Drittel und die Redakteurin des Tagesspiegels stellt noch mal die Leserjury vor. Sie hatten alle Forumsbeiträge gesehen, beraten und sich für den kommenden Siegerfilm entschieden.
Unser Abschlussfilm des Festivals ist sehr kraftvoll und verstörend. Ein Film mit einer Frau im Mittelpunkt, aber auch nur, weil ein Mann sie zum Opfer macht.
In WINTER'S BONE von Debra Granik zieht eine 17-jährige Amerikanerin ihre beiden kleinen Geschwister auf und kümmert sich um ihre geistig abwesende Mutter. Sie muss den kriminellen Vater finden, der als Kaution Haus und Hof angegeben hat. Eine Woche hat sie Zeit, sonst müssen alle 4 auf der Straße leben.
Diese ländliche Familie ist sehr arm. Oftmals müssen sie hungern, alles ist dreckig, kaputt und traurig. Hinzu kommen die verworrenen Familienverhältnisse, die Unehrlichkeit und das Misstrauen unter Freunden und Verwandten. Diese Frau wird so ungerecht behandelt - sie antwortet mit absoluter Härte und Unnachgiebigkeit. Woher nimmt sie diese Kraft?
Ein völlig andere Welt wird uns gezeigt. Diese ist mir zum Glück fremd, aber ich kann den Schmerz und die Perspektivlosigkeit dieser jungen Frau nachempfinden. Ein bemerkenswerter Charakter, warum sind solche, fast dokumentarischen Filme nicht im Wettbewerb? Ich bin erschüttert und begeistert. Ein würdiger Abschlussfilm. Applaus.

Das war sie nun die Berlinale in diesem Jahr. Zusammenfassend ein schwacher Geburtstagsjahrgang. Sind die Macher abgestumpft oder gibt es im Moment keine anderen Filme auf der Welt? Sicher, wie die Presse schreibt warten viele Filmemacher lieber auf die Festivals in Cannes und Venedig, aber trotzdem müssten doch irgendwo Perlen zu finden sein!
Ich bin froh mit meinen beiden Freunden unterwegs gewesen zu sein. Wir haben uns gegenseitig per Handy geweckt und über das Gesehene ausgetauscht.
Nächstes Jahr wieder? Vielleicht. Mal sehen. Im Moment hab ich genug Zeit in dunklen Räumen mit offenen Augen verbracht.

Samstag, 20. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 10. Tag

Festivalchef Dieter Kosslick als Eröffnungsredner bei der Vergabe der Preise der unabhängigen Jurys in der saarländischen Landesvertretung

Wir holen Karten für morgen und gehen schnurstracks in die saarländische Landesvertretung, wo alle Preise der unabhängigen Jurys (Sozial-, Verbands- und Leserpreise) vor der Presse vergeben werden.
12.30 Uhr
Die Räumlichkeiten sind klein, viele Filmschaffende und viel Presse ist anwesend. Nacheinander werden die Preise in Form von Glastellern, Bilderrahmen und Geldumschlägen verteilt. Barbara Sukowa (VISION - AUS DEM LEBEN DER HILDEGARD VON BINGEN) vergibt den Preis für Amnesty International, weitere Laudatoren kommen auch aus dem Filmbusiness.
An achter Stelle sollen wir auf die Bühne und der Redakteur der Berliner Morgenpost übergibt den Preis an Hans Petter Moland für meinen Wunschfilm EN GANSKE SNILL MANN. Wir freuen uns riesig. Mein Favourit! Juhu. Und Herr Moland aus Norwegen ist so dankbar. Wir machen ein Foto und sprechen mit ihm. Natürlich ist ihm ein Publikumspreis besonders wichtig, doch trotzdem hofft er auf mehr in der Abschlussverleihung am Abend.
Es gibt belege Brötchen (aufregend), Pfannkuchen und den üblichen sauren Wein, Bier und für mich Wasser (grandios). Die Stimmung ist angenehm, wir tauschen erstmals mit unseren Jurykollegen Adressen aus und freuen uns auf ein Wiedersehen. Vielleicht im Kino!?


Die Leserjury (2 fehlen) mit dem von uns prämierten Regisseur Hans Petter Moland (gelbe Hose)

Wir gehen in die BMW Lounge. Eine Jurykollegin sagte uns, dass wir da auch reinkommen. Na toll. Am letzten Tag erfahren wir es erst.
Die Lounge ist neben dem Saal für die Pressekonferenzen im Pressebereich im Hotel Hyatt. Weiße Wände, modernes Mobiliar, eine holzgetäfelte Bar. Wir bestellen Bio-Ananassaft, Latte Macchiato und bekommen dazu kleine Häppchen. Currywurst, paniertes Hühnchen auf Gemüse, Ziegenkäse mit Kräuterpesto, Kalbsfleisch mit Walnüssen, Kartoffelgratin mit Pilzen und Zuckerschaum - alles angerichtet wie im 3-Sterne-Restaurant. Essen wie Prominente auf einer Premierenparty. Es ist wunderbar. Noch schnell ins Internet und dann zu unserem heutigen Film.

17.00 Uhr Cubix 9
Wir rasen aus der U-Bahn die Treppen hoch, ins Kino hinein. Der Saal ist voll. PHOBIDILIA von Doron und Yoav Paz aus Israel läuft in der Sektion Panorama. Ein junger Mann (der gefühlte 1000. Männerfilm dieses Festivals) hat seit 2 Jahren seine Wohnung nicht verlassen. Er arbeitet als Programmierer und bestellt sein Essen per Teleshop. Er hat eine Menschenphobie entwickelt und traut sich nicht mehr über die Schwelle ins Stadtleben hinein. Eines Tages erklärt ihm der Hausverwalter, dass er die Wohnung räumen soll. Zeitgleich lernt er eine junge Frau kennen, die ihn besucht. Er verliebt sich in sie.
Nun versuchen beide mit unorthodoxen Methoden den Mann aus der Wohnung zu locken.
Entspannend: keine Vergewaltigung, kein Kindstod, keine offensichtlichen Behinderungen. Der Film ist schön, macht Spaß, hat Humor. Ich bin nur zu erschöpft von diesen 10 Tagen, ich genieße ihn nicht vollkommen.
Danach fahren wir zum Potsdamer Platz zurück und gehen, unweit vom Trubel, zum Public Viewing in die HomeBase Lounge in der Köthener Straße.


19.00 HomeBase Lounge
Es ist so leer, als wir 5 vor 7 dort ankommen. Ein großer Raum, eine Leinwand, zu wenig Plätze. Wir finden eine Ecke und schauen Anke Engelke beim Moderieren zu. Es ist lahm. Das Swing Dance Orchestra ist nicht dabei. Zwischen den 8 Preisen entstehen peinliche Galalücken - die Amis machen das besser. Es entsteht kein Glamour.
Überraschend gewinnt BAL aus der Türkei den Goldenen Bären. Der Große Preis der Jury und der Alfred-Bauer-Preis gehen an den rumänischen Film EU CAND VREAU SA FLUIER, FLUIER. Polanski erhält den Regiepreis. Bei unserem kleinen Tippen gewinne ich, weil ich Glückstreffer lande. Gerade die 3 Darstellerpreise (Japan und zweimal Russland) verstehen wir nicht.
Wir gehen essen. Ganz schlechter Touristenfraß und ein letzter Latte Macchiato in der BMW Lounge.
Morgen gibts noch 2 Filme.

Freitag, 19. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 9. Tag


Produzent, Schauspielerin Yolande Moreau, Regisseure Benoit Deléphine und Gustave de Kerven, Schauspieler Gérard Dépardieu und Miss Ming bei der Pressekonferenz

9.00 Uhr Berlinale Palast
Pernille Fischer Christensen aus Dänemark hat ihren Wettbewerbsbeitrag EN FAMILIE genannt. Ein Familienfilm.
Das Oberhaupt eines traditionsreichen dänischen Bäckereiimperiums ist totkrank. Die Tochter soll neue Chefin werden, hat aber eigene Pläne. Sie möchte als Galeristin mit ihrem Freund nach New York gehen. Ein Zwist bricht aus.
Für den Film EN SOAP erhielt die Regisseurin 2006 den Silbernen Bären, trotz dieser Erfahrung ist der neue Streifen lahm. Ich nicke, auch wegen der zu kurzen Nacht, mehrfach ein. Er ist knallhart in seiner schmerzlichen Offenheit, aber ich habe keinen Bezug zu ihren Problemen. Ich bin nicht gerührt. Die anderen im Saal schon - dies ist also nichts für mich.

12.00 Berlinale Palast
Michael Winterbottom arbeitet in seinen Spielfilmen eher dokumentarisch. Man hat meistens das Gefühl, dass alles echt ist. Diesmal ist Winterbottom (THE ROAD TO GUANTANAMO) einen brutalen sexistischen Thriller mitgebracht, der in den 1950-er Jahren spielt. Ein Cop (Casey Affleck) verprügelt Frauen und bringt sie danach um, einfach nur aus Lust an der Qual.
Über 2 Stunden schön fotografiertes, psychologisch unverständliches ab-18-Kino in unverständlichem, texanischen Englisch. Dies ist der erste Wettbewerbsfilm, der ohne Untertitel läuft. Die meisten Passagen sind nur über die Bilder zu verstehen, der Großteil der Dialoge bleibt unverständlich, aber das ist egal. Dieser Streifen hat in einem internationalen Qualitätswettbewerb eh nichts verloren. Außerdem ist er wieder nur ein Männerfilm. Wieder mal. Davon habe ich mit meinen Kollegen aus der Leserjury schon sehr viel bessere gesehen.

Kann noch was kommen? Wars das?

15.30 Uhr CinemaxX 7
Es ist ziemlich früh ziemlich voll. Wegen Dépardieu? Wegen der belgischen Regisseure? Wollen die Journalisten dem Wettbewerb noch eine Chance geben? JA. JA. JA. Ein absolut bemerkswerter, überraschender, kurzweiliger Spielfilm: MAMMUTH von Benoit Deléphine und Gustave de Kervern. Dépardieu spielt (ähnlich wie Rourke in THE WRESTLER) einen fetten, lebenslahmen Mann, der nach Jahren seinen letzten Arbeitstag im Schlachthaus hatte. Er wird verabschiedet und in den Ruhestand entlassen. Seine Frau, gespielt von der wunderbaren Yolande Moreau (LOUISE HIRES A CONTRACT KILLER), überredet ihn die fehlenden Rentenbescheinigungen seiner früheren Arbeitsplätze zu besorgen - ein Roadmovie beginnt. Wunderbare kleine Geschichten, ungewöhnliche Orte, herrlich absurde Typen - von denen er der komischste ist - werden dem Zuschauer im Laufe der Geschichte vorgestellt. Manchmal überlegt man kurz, ob dies jetzt wirklich passiert. Aber ja, die belgischen Regisseure treiben die Frivolität in die absurdesten Höhen - ein Fest! Unbedingt sehen. Vor allem Dépardieu in seinen Boubous.
Der letzte, für die Bewertung in Frage kommende Wettbewerbsfilm ist aus. Wir werden sentimental und sind überrascht, dass es doch so schnell vorbei ging. Wir rufen abwechselnd bei der Morgenpost an und sprechen unsere 3 Favouriten aufs Band. Meine Top 3 sieht wie folgt aus. Platz 3: THE GHOST WRITER, Platz 2: MAMMUTH und Platz 1: EN GANSKE SNILL MANN. Morgen erfahren wir das Ergebnis.

Donnerstag, 18. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 8. Tag

Ein Abend am Potsdamer Platz.

9.00 Uhr Berlinale Palast

Wieder ist Jasmila Zbanic im Wettbewerb als Regisseurin vertreten. 2007 hatte die kroatische Filmemacherin auf der Berlinale mit ihrem Film ESMAS GEHEIMNIS den Goldenen Bären bekommen. NA PUTU spielt wieder in Kroatien. Die bildhübsche Stewardess muss mit ansehen, wie sich ihr arbeitslos gewordener Mann zu einem konservativen Muslim verändert. Die muslimische Gesellschaft lebt dort an einem See nach ihrem Bräuchen, außerhalb der Stadt. Die Kinder werden unterrichtet, Männer und Frauen werden separiert, alles wirkt fremd. Wir erleben alles aus der Perspektive der Frau: anfangs noch offen und interessiert, dann enttäuscht, dann wütend. Die Frau ist weniger wert in dieser anderen Welt.
Ein behutsamer, fast dokumentarischer Blick auf dieses Paar wird uns offenbart. Trotzdem schafft der Film es nicht mich gefangen zu nehmen. Zu fremd ist mir diese Problematik, zu starr die Mimik der Hauptdarstellerin. Interessant, aber kein essentiell konzentrierter Film.
Nach einem Kaffee bei McDo fühlen wir uns scheinbar gestärkt, für alles was da kommen mag.
Doch wissen wir zu diesem Zeitpunkt nicht, was für ein Grauen uns erwartet.

12.00 Uhr Berlinale Palast
JUD SÜSS - EIN FILM OHNE GEWISSEN ist der Titel dieses deutschen Wettbewerbsbeitrages von Oskar Roehler (DIE UNBERÜHRBARE). Der Saal ist voll, die Internationale Jury hat Platz genommen. Der Vorhang hebt sich.
Hier sollte eigentlich die Geschichte zur Entstehung des bekanntesten Propagandafilms des Dritten Reiches JUD SÜSS erzählt werden.
Aber, was soll das?
Deutsche Darsteller versuchen sich als Klischee-Nazis in Sin City-Ästhetik; die Juden sehen aus, als kämen sie aus einer Nathan-der-Weise-Inszenierung der 1930-er Jahre. Alle agieren in einem künstlich-armseligen und entfärbten Filmatelier und schwanken bei ihrem Spiel zwischen mieser Komödie und Laienfilm.
Wir müssen laut lachen, als sich die Obernymphomanin des deutschen Fernsehfilms Gudrun Landgrebe auf einem Berliner Dachboden im nächtlichen Bombenhagel von hinten nehmen lässt. Anders kann man dies leider nicht beschreiben. Dazu ruft sie "Weiter Jude, weiter Jude." zu Marian-Darsteller Tobias Moretti. Wir sind, mit den 3 Österreicherinnen hinter uns, die Einzigen im Saal die nur noch lachen können. Die Journalisten im Kinosaal wirken irgendwie paralysiert, oder tot. Keine adäquate Reaktion beim Publikum.
Und es geht weiter: Moritz Bleibtreu als Göbbels-Laien-Karikatur, dramaturgische Geschichtsverfälschung - zum Glück wurde auf Hitler verzichtet!
Am Ende schäme ich mich als Deutscher für diesen Film.
Als ganz zum Schluss eingeblendet wird, wie viele Juden im 2. Weltkrieg vergast wurden, müssen wir im totenstillen Kino als Einzige laut stöhnen über diese unerträgliche Peinlichkeit. Eiskalt schiebt Roehler damit seinem Werk unter den Mantel historischer Aufarbeitung. Es ist nicht zu überbieten!
Erst im Abspann hören wir einige Buhrufe - die Zuschauer sind offenbar zur Besinnung gekommen!
So unseriös und lächerlich mit so einem ernsten Thema umzugehen, zieht mir die Schuhe aus. Peinlich für dieses Festival und für die anderen Beiträge im Wettbewerb. Das hat Berlin nicht verdient.
Ein jüdisch-amerikanische Journalistin saß neben mir. Wie sie mir draußen erzählt, hat sie sich über mein Stöhnen am Ende aufgeregt. Dann spricht sie mich jedoch an und ich erkläre ihr alles. Sie ist meiner Meinung.
Gerade dieses Gespräch hat mich sehr gestärkt. Es ist der Gedankenaustausch mit Fremden, der einen Selbst zum Nachdenken anregt. Nur auf so einem internationalen Festival ist dies möglich. Jetzt weiß ich wieder, warum ich mich für die Jury beworben habe...
Auf der Pressekonferenz zum Film interviewt der Moderator extra lang das Team. Wahrscheinlich will er damit kritische Fragen der Presse unterbinden. Es kommen dann nämlich keine! Alles nehmen den Film als Drama mit "clowneskem Göbbels" (O-Ton M. Bleibtreu) ernst.
Tagesspiegel und FAZ beschäftigen sich tags darauf ernsthaft mit diesem Machwerk. Es wird nicht über die unerhörten historischen Fehler geschrieben. Die Leistungen der Schauspieler werden gelobt, die Regie wird gelobt. Bekommen die alle Geld von der Produktion?

16.00 Uhr CinemaxX 7
Wir haben uns beruhigt. Aus Argentinien stammt diese schöne kleine Familiengeschichte über eine Hausfrau, die ihre Leidenschaft fürs puzzlen entdeckt. ROMPECABEZAS von Natalia Smirnoff funktioniert. Alles stimmt: die Geschwindigkeit, die Schauspieler, die Kamera. Dieser Film will nicht mehr sein, als er ist. Anschauen.

20.00 Uhr Urania
SHAHADA ist ein dreigeteilter Episodenfilm, der in Berlin spielt. Eine Muslimin die illegal abtreibt und mit ihrem Glauben in Konflikt gerät; ein Polizist, der seine Vergangenheit aufarbeitet; ein junger Muslim, der sich in seinen Freund verliebt. Nicht chronologisch geschnitten und eine realistische Kamera - trotzdem, die Darsteller reagieren komisch, unverständlich. Mir gefallen nur Episoden dieses Films.
Morgen ist unser letzter Tag als Jury. Ich bin gespannt, ob da noch was kommt.

Um wenigstens eine Party mitzunehmen, gehen wir auf die Party der filmreichsten Sektion des Festivals. Das Berlinale Forum (des jungen Films) feiert mit Filmemachern und -beteiligten, sowie Mitarbeitern und Kollegen ihre Abschlussparty in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Leeres Haus. Wir sind um elf dort und die Bereiche Seitenfoyer, Sternfoyer, der Grüne und Rote Salon sind leer. Die Gäste kommen spärlich. Das liegt wahrscheinlich daran, dass die Einladungen seit diesem Jahr nur noch für eine Person gelten. Begleitungen sind unerwünscht. So kann man auch Geld sparen.
Wir kommen mit drei Einladungen, die wir zufällig bekommen, auch alle drei rein u betrinken uns mit allem, was da ist: Wein, Bier und für mich Wasser.
Im Laufe des Abends wird es voll. Die Musik ist gut, ich bin aber zu fertig um zu tanzen. Um 2 gehen wir und Renée Zellweger ist nicht aufgetaucht. Schade.

Mittwoch, 17. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 7. Tag

Regisseurin Lisa Cholodenko und Star Julianne Moore in einem gelben Kleid.

Es ist spät geworden gestern Abend, also sind wir erst zur zweiten Vorstellung gekommen und holen den deutschen Beitrag SHAHADA morgen Abend nach.

12.00 Uhr Berlinale Palast

THE KIDS ARE ALL RIGHT von Lisa Cholodenko (LAUREL CANYON) läuft außer Konkurrenz. Wieder wird ein Film gezeigt, der wirklich gut ist, wieder kann er nicht prämiert werden. Wir sitzen im Rang und schauen diesen Sommerfilm. Es ist der letzte Sommer bevor die Tochter das Zuhause verlässt, um in die Uni zu gehen. Vorher wollen beide Halbgeschwister herausfinden, wer der Samenspender ihrer Eltern war. Die Eltern (Juliane Moore und Annette Bening) führen eine unausgewogene Beziehung, bei der das plötzliche Auftauchen des Spenders (Mark Ruffalo) zum Aufbrechen unausgesprochener Disharmonien führt. Die Familie scheint aus dem Lot geraten. Der Film hat trotz des heiklen Themas eine große Leichtigkeit. Das liegt nicht nur am fabelhaften Drehbuch. Moore und Bening spielen einfach so überzeugend und sensibel, ohne ständig in Klischeedarstellungen zu verfallen, dass es Spaß macht ihnen zuzuschauen.

Auf der anschließenden Pressekonferenz sind leider nur die Regisseurin und Juliane Moore da. Beide sind jedoch gut gelaunt und beantworten wieder mal oft dümmlichen Fragen der Presse elegant und professionell.


Der russische Beitrag beginnt zu spät.

15.30 Uhr CinemaxX 7

Es wird voll. Zur Presseaufführung von KAK YA PROVEL ETIM LETOM wird auch die Internationale Jury kommen. Die Hälfte der Jury sitzt schon mit uns in einer Reihe. Auch wir dürfen angeblich auf den reservierten ca. 25 Sitzen Platz nehmen, doch kurz bevor Renée Zellweger den Saal betritt, werden wir verscheucht. Die Jury ist nicht allein. Im Gegensatz zu den letzten Jahren, haben diese auserwählten Prominenten ein bis zwei Begleiter mitgebracht. Was für ein wichtigtuerischer, lächerlicher Auftritt. Es wirkt dadurch eher wie langweilige eine Promiveranstaltung. Schade Renée.

Der Film von Alexej Popogrebski ist auch bedauerlich schlecht. Ein Polarforscher hat Besuch. Ein junger Mann macht ein Ferienpraktikum in dieser kalten, verlassenen Einöde. Beide verstehen sich nicht wirklich, haben kein Vertrauen zueinander. Über Funk erfährt der Praktikant, dass die Frau und das Kind des Älteren tötlich verunglückt sind. Der junge Mann hat jedoch keinen Mut es dem Forscher zu sagen.

Kaum Dialoge, kaum Handlung, keine Spannung, keine absehbare Verbesserung. Wir verlassen frühzeitig und enttäuscht den Saal. Wir sind nicht die Einzigen.

Dienstag, 16. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 6. Tag

9.00 Uhr Berlinale Palast
Es schneit wieder mal. Ein kleiner Junge von ungefähr 6 Jahren bestimmt diesen deutsch-türkischen Film namens BAL, der letzte Teil der Anatolien-Trilogie des Regisseurs Semih Kaplanoglu.
Das Leben im anatolischen Hochland ist noch sehr archaisch. Die kleine Familie lebt in einem Holzhaus, nebenan ist der Stall mit Pferd und Hühnern. Während die Mutter den Haushalt erledigt und auf dem Feld arbeitet, geht der kleine Yusuf mit seinem Vater in den Wald. Sie kümmern sich um die hölzernen Körbe, die in den Bäumen hängen, der Vater ist Imker.
Es wird keine Zärtlichkeit zwischen den dreien über einen Kuss oder eine Umarmung ausgedrückt, alles läuft über Vertrauen und über Blicke.
Weite, saftig grüne Wälder, eine ruhige Geschichte ohne Musik, ohne künstliches Licht. Doch wieder zu lang. Als es, leider erst am Ende, spannend wird, ist Schluss. Die Inhaltsangabe im Berlinaleheft hatte dies anders beschrieben.
Als ich mein Handy wieder anschalte bekomme ich ein Nachricht. Ein Redakteur von der Morgenpost möchte uns interviewen. 10 Minuten später sitze ich bei Starbuck's und wir unterhalten uns über das Festival, die Filme und die Atmosphäre. Mit einem Foto von uns soll ein Artikel in der Donn
erstagsausgabe erscheinen. Bin gespannt.

Keener, Holofcener, Hall, Peet (v. l. n. r.)
12.00 Uhr Berlinale Palast
PLEASE GIVE - der erste wirkliche Frauenfilm. Catherine Keener (BEEING JOHN MALKOVICH), Amanda Peet (2012) und Rebecca Hall (VICKY CRISTINA BARCELONA) spielen unter der Regie von Nicole Holofcener (FRIENDS WITH MONEY) mutige, selbstbewusste - aber unzufriedene Frauen. Keener spielt eine gutsituierte Frau, die mit ihrem Mann einen Antiquitätenladen betreibt. Sie verkaufen Möbel, die sie aus Wohnungsauflösungen beziehen. Die Nachbarwohnung haben sie gekauft, doch noch wohnt die 91 jährige Großmutter darin, die zumindest von einer Enkelin (Hall) liebevoll gepflegt wird.
Es stimmt alles: die Stadt, die Geschwindigkeit, das Licht, die Dramaturgie. Dieses Werk macht Spaß. Wir amüsieren uns. Und gerade auf der Pressekonferenz im Anschluss zicken sich diese 4 Frauen professionell, aber spielerisch an. Es ist ein Fest.

Warum läuft so ein Film außer Konkurrenz? Wahrscheinlich weil er zu gut ist.

16.00, nein 16.20 nein 16.35 Uhr! CinemaxX 9
Mit 35 Minuten Verspätung und einem Chaos am Saaleingang (das Personal macht keine Ansagen) startet
der iranische Beitrag im Wettbewerb. Ein Mann kommt aus dem Gefängnis und dreht durch, als er erfährt, dass Frau und Tochter durch einen Unfall erschossen wurden. SHEKARCHI ist eine deutsch-iranische Coproduktion bei der der Regisseur auch die Hauptrolle übernommen hat. Wenn er sich da mal nicht übernommen hat! Er hat. Unlogische Geschichte, Anschluss- und Requisitenfehler, kaum überzeugende Darsteller.
Wieder ein politischer Film der nicht funktioniert. Er ist anscheinend nur im Wettbewerb, weil er aus einem Land kommt, in dem die Masse der Bevölkerung unterdrückt wird. Das muss die westliche Welt erfahren. Es gibt ja auch keine Presse oder Literatur...
Ich bin so enttäuscht. Wieder eine männliche Hauptrolle, wieder geht es nicht um filmische Qualität.

21.00 Uhr Friedrichstadtpalast
Noch eine Karte hatte ich dazu gekauft. Wir gehen zu viert in die Gala Premiere von Matti Geschonnecks Film BOXHAGENER PLATZ nach dem gleichnamigen Buch von Torsten Schulz.
Diesmal werden alle ohne Limousine zum Seiteneingang geschickt - wir dürfen nicht über den roten Teppich. Schade. Kein Wunder dass Berlin der Glamour fehlt...
Es ist ausverkauft, wir sitzen rechts vorn.
Gudrun Ritter vom Deutschen Theater beherrscht ihr Handwerk. Sie ist witzig und glaubwürdig als Familienoberhaupt. Die Dialoge sind ihr auf den Leib geschrieben.
Jürgen Vogel spielt den Schwiegersohn. Michael Gwisdek den Liebhaber. Überhaupt ist die ganze Besetzung klasse. Der Streifen beschreibt eine Episode einer Familie aus Friedrichshain in der DDR 1968. Der Fokus wird auf den Enkel gelegt.
Das Setting hat man leider schon zu oft gesehen, es ist die Babelsberger Außenkulisse mit 2 Straßenzügen. Die Fenster und Balkone stimmen nicht, ebenso der Doppeldecker, der in einer Szene durchs Bild fährt. Aber das tut dem Film keinen Abruch. Er ist charmant, er ist unterhaltsam. Aber auch typisch Deutsch: alle Fragen werden beantwortet, der Zuschauer ist an die Deutung gebunden.
Wir gehen zu viert Essen, eine Premierenparty scheint es nicht zu geben. Egal, wir haben unseren Spaß!

Montag, 15. Februar 2010

BERLINALE 2010 - 5. Tag

15 m² unmöbliertes Zimmer, Neubau 2010, 1. OG, zentrale ruhige Lage, blickdichter bärenbewachter Sicherheitszaun, WC im Hof. Interessiert? Besichtigungen nach Absprache.

9.00 Uhr Berlinale Palast
Der österreichische Beitrag heißt DER RÄUBER von Benjamin Heisenberg (SCHLÄFER) und handelt von einem Marathon-Läufer der in seiner Freizeit Banken überfällt.
Andreas Lust spielt diesen in sich gefangenen Mann. „Zuviel Energie und innen tot. wie der Charakter einmal sagt.
Der Film ist langsam, baut sich auf und behält dann ein Spannungslevel, welches nicht mehr gesteigert wird. Diese Geschichte ist zu lang. Alles muss immer unbedingt gezeigt werden. Der Film ist ein wenig deutsch: dem Zuschauer traut man die richtige Deutung nicht zu. Alles muss bis zum Ende erzählt werden!
Warum scheint ein Großteil der Filme zu schnell fertiggestellt? Viele Filmemacher des Wettbewerbs erzählen langweilige, bissweilen schlechte Geschichten und dehnen diese dann unnötig aus. Wann kommt ein Höhepunkt, der offiziell von uns gewertet werden darf?

12.00 Uhr Berlinale Palast
Endlich! EN GANSKE SNILL MANN aus Norwegen ist eine schwarze Komödie. Der international erfolgreichste schwedische Schauspieler Stellan Skarsgard (ILLUMINATI) spielt den nach 12 Jahren wegen Mordes aus der Haft entlassenen Endfünfziger.
Wieder steht ein Mann im Vordergrund, diesmal kann er sich aber aus seinen Zwängen befreien.
Alles wirkt, wie aus einer vergessenen Welt: die Charaktere tragen fade, fast entfärbte Gesichter, die Straßen und Häuser haben Blau- und Grautöne. Doch durch die straff erzählte Handlung und die skurilen Ereignisse, die dem Hauptdarsteller passieren ist der Film leicht und nimmt sich nicht so ernst. Als Zuschauer muss man eher lachen, als dass man der sozial-moralische Komponente zuviel Raum gibt. Ich mag diesen Film sehr. Der Saal klatscht ausgiebig. Mein Favourit!

15.30 Uhr CinemaxX 7
Japan zeigt eine Kriegsgeschichte des Regisseurs Koji Wakamatsu. Eine Frau verzweifelt - eine F r a u!
Der erste Wettbewerbsbeitrag indem eine Frau im Mittelpunkt steht.
Nur noch wie eine Raupe - CATERPILLAR - kann sich ihr aus dem Kieg heimgekehrter, hochdekorierter Mann bewegen. Ohne Gliedmaßen, der angebrannte Kopf und die Taubheit - fast unfähig allein irgendetwas zu machen.
Die Frau muss im Dorf die gute und treue Pflegerin spielen. Alle sind stolz auf den Kriegshelden.
Das Mitleid zielt doch auf den Krüppel. Der Mann ist also Opfer und macht seine Frau damit auch zum Opfer. Ein irgendwie frauenverachtendes Weltbild, in dieser bisherigen Filmauswahl. Möchte man an die Zeitalter der Männer erinnern? Oder dahin zurück? Ich war kurz davor diesen Streifen zu verlassen: Das Bild ist langweilig und ästhetisch hat es VHS-C-Qualität, das Buch ist seelenlos, die Rückblenden sind von Amateur-Fans gefilmt, die Szenen sind lieblos inszeniert, die Darsteller armseelig. Toller Film...

19.15 Uhr CineStar 8
Ich gehe mit meinen Kollegen mit. Sie wollten diesen koreanischen Film schauen: I'M IN TROUBLE von So Sang-min.
4 Endzwanziger haben ihr Liebesleben nicht unter Kontrolle. Der Antiheld, ein symphatischer junger Mann, macht alles kaputt, was er in die Finger bekommt. Seine Bezeihung, eine neue Beziehung, das Bündnis mit seinem besten Freund. 98 Minuten die zu nichts führen. Es wir viel gesprochen, aber noch weniger gesagt.
Schlechtes, unnatürliches Licht, keine Figurenentwicklung - ich schlafe ein. Das Ende ist auch nicht besser. Der Saal applaudiert. Warum?